Keine leichte Entscheidung – Das Elternhaus verkaufen
Sieben Monate haben wir alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen. Es bleibt uns nichts anderes übrig als das Elternhaus zu verkaufen. Wir Alten sind inzwischen an anderer Stelle verwurzelt und von den Jungen kann niemand das Risiko eingehen, Wohnung und Arbeit aufzugeben, um das Haus zu retten. Es müsste vieles daran erneuert werden, um heutigen Ansprüchen gerecht zu werden. Wir haben als Kinder miterlebt, wie sich die Eltern für dieses kleine Stückchen neue Heimat plagen mussten. Sie kamen praktisch mit leeren Händen und ein paar schäbigen Lumpen am Körper nach einer langen Odyssee 1948 in der Uckermark an. Zunächst kam meine Mutti bei anderen Leuten in einer winzigen Kammer unter, mein Vati musste in einem Pferdestall schlafen, wo ihm nachts die Ratten über das Gesicht liefen. Sie hatten im Krieg und auf der Flucht furchtbare Erlebnisse, aber am schlimmsten war für sie, dass sie durch Hunger, Kälte und Krankheit die beiden ersten Kinder verloren. Deshalb nahmen sie alle Mühen auf sich, als sie im Zuge der Bodenreform ein Stückchen Land und die Möglichkeit zum Bau eines Neusiedlerhauses bekamen. Daran waren jedoch viele Bedingungen geknüpft. Sie mussten ganz viele Arbeiten selbst erledigen (Abbruchsteine aus Ruinen bergen, in einen Eisenbahnwaggon verladen, vor Ort wieder ausladen und mit geliehenem Fuhrwerk zur Baustelle fahren. Mein Vati hat zweimal mit Spitzhacke und Schaufel den Keller ausgeschachtet. Beim ersten Mal hatte sich der Architekt vertan und nicht den Verlauf der Stromleitung beachtet. Dadurch kam nun sehr viel Lehm an die Oberfläche. Meine Mutti hat es immer beklagt, dass ihr Garten aus dem schweren Lehmboden bestand. Im November 1952 konnten sie endlich in ihr Haus einziehen. Es bestand nur aus der Küche und einem einzigen Zimmer. Die andere Hälfte musste vertragsgemäß als Stall genutzt werden.
Zu der Zeit hatten sie bereits wieder zwei Kinder (achtundzwanzig und zwölf Monate, das größere Kind ist meine Kusine) und die Mutti war erneut schwanger. In der Küche wurde gekocht und gegessen, das Futter für die Tiere bereitet, die gesamte Wäsche von Hand gewaschen und sie war Spielplatz für uns Kinder. Das Haus hatte Stromanschluss, aber in den ersten Jahren gab es immer wieder Stromsperren. Das Wasser für Menschen, Tiere, Wäsche musste aus einer Pumpe vom benachbarten Gutshof etwa vierhundert Meter weit herangeschleppt werden. In der Stube war nicht mal Platz für einen Tisch. Es musste ja jeder einen Schlafplatz haben. Erst kurz vor der Geburt des vierten Kindes konnten sie endlich einen Stall anbauen und gewannen dadurch ein Schlafzimmer. Auf dem Hof gab es ein Plumpsklo. Das kann sich heute niemand mehr vorstellen. Und 1961 bekamen sie Material (so genannte „Sauerkrautplatten“), um im Dachgeschoss ein Kinderzimmer ausbauen zu können. Da das Dach nicht isoliert war wie es heute üblich ist, wurde es in diesem Zimmer im Sommer sehr heiß und im Winter waren unsere Abdrücke, die wir Kinder mit bloßen Händen und Füßen auf der vereisten Giebelwand hinterlassen hatten, wochenlang zu sehen.
Erst ab diesem Zeitpunkt konnte die Stube als Wohnzimmer mit Couch, großem Esstisch und Stühlen und einem Wohnzimmerschrank eingerichtet werden. 1967 wurde dann endlich eine Wasserleitung im Dorf verlegt und jeder musste den Graben zu seinem Grundstück selbst buddeln. Mein Vati war zu der Zeit schon Invalide. Deshalb musste wieder die Mutti die schwere Arbeit erledigen, hatte jedoch schon Unterstützung durch die Söhne. Anfang der siebziger Jahre wurde dann ein kleiner Teil des Stalls in ein sehr bescheidenes Bad mit Waschbecken, Wanne und Toilette umgebaut. Und es wurde eine Veranda davor gesetzt, die den winzigen Eingangsbereich vergrößerte. Wer das alles weiß, kann sich nun vielleicht vorstellen, weshalb es uns so schwer fällt, uns von diesem unserem Elternhaus zu trennen.
13 Personen haben einen Kommentar hinterlassen
Kadyz geschrieben am 28. Juni 2016, 08:50:
Ich kann das total nachvollziehen.
Mein Elternhaus mußte auch verkauft werden, wir waren acht Erben.
Bis heute kann ich nicht dahin gehen, es schmerzt auch noch nach 25 Jahren!
Gruß Kadyz
Hanne geschrieben am 28. Juni 2016, 10:04:
Liebe Helga,
sehr berührend wie du deine Beweggründe schilderst. Ich kann mir leider nur zu gut vorstellen, wie es dir in dieser Situation geht.
Sieh es doch von dieser Seite: Mit dem Verkauf des Hauses bietet ihr einer anderen Familie die Möglichkeit an eurer Familiengeschichte teilzuhaben und Geschaffenes zu erhalten und fortzuführen. Oftmals kann man auch nach Jahren mal wieder das Haus besuchen und schauen was die neue Familie daraus gemacht hat.
Viel Kraft wünsche ich dir
Helga O geschrieben am 28. Juni 2016, 10:18:
Das ist wahrhaftig keine leichte Entscheidung,da es dabei um Herzensdinge geht!Ich kenne das sehr genau!
Vielleicht gibt es noch eine andere lösung,wie vermieten,oder als Lager anbieten,für Weinlagerung ecta.
Verkauft ist es schnell und man hat für alle Zeiten einen sehr faden Geschmack dabei!Liebe Grüße,Helga O.
Helga geschrieben am 28. Juni 2016, 12:26:
Ihr Lieben,
Danke für euer Interesse.
Nein, vermieten kommt für uns nicht in Frage. Dafür haben Vermieter heute viel zu viele Verpflichtungen und Mieter zu viele Rechte. Es geht ja auch darum, dass niemand von uns den Unterhalt des Hauses übernehmen kann. Und das war ja auch der Grund dafür, dass wir so lange mit der Entscheidung für oder gegen einen Verkauf gerungen haben.
Ja, als Zwischenlager für irgendwelche Waren so dicht an der Autobahn nach Polen würden sich bestimmt Interessenten finden. Aber das ist ja nun überhaupt nicht in unserem Sinne.
Wir hoffen auf einen Käufer, der es als Wohnhaus nutzen wird.
Liebe Grüße Helga
Sara (Herz und Leben) geschrieben am 2. Juli 2016, 11:45:
Schon sehr schade. Ich würde es irgendwie versuchen zu halten. Sicher kann man schlechte Erfahrungen mit Mietern machen, muß aber nicht, so kann man z.B. auf Zeit vermieten, z.B. für 2 oder 3 Jahre, manche bleiben dann dauerhaft und man verlängert einfach den Mietvertrag immer wieder.
Ich würde das eher nicht so sehen, daß Mieter zu viele Rechte haben, denn oft ist es eher umgekehrt und die Mieter werden einfach vor die Türe gesetzt. Ich weiß ja nicht, in welchem Bundesland Du wohnst …
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Sara
Helga geschrieben am 2. Juli 2016, 12:26:
Hallo Sara, wie gesagt, haben wir wirklich alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen. Mein Bruder und mein Schwager, die beide in der Nähe wohnen, sind körperlich nicht mehr in der Lage, das große Grundstück nebenbei in Ordnung zu halten. Wir wohnen zu weit weg. Und es müsste ja am Haus selbst eine Menge erneuert werden. Unsere Mutti hat mit knapp neunzig Jahren noch die Erneuerung der Heizung und der Fenster ertragen. Aber das Haus braucht ein neues, gut isoliertes Dach und muss neu verputzt werden. Und es ist auch nicht abzusehen, dass es in Zukunft jemand aus der Familie nutzen könnte. Unsere Kinder haben alle weit weg ihre Arbeit, die sie wegen des Hauses nicht aufgeben können. Dafür sind in der Uckermark die Arbeitsmöglichkeiten nicht ausreichend.
Liebe Grüße Helga
Bine geschrieben am 3. Juli 2016, 07:26:
Liebe Helga,
ich beschäftige mich seit 10 Jahren intensiv mit der Familiengeschichte, insbesondere der sozialen Lebensumstände der Ahnen.
Dadurch weiß ich wie mühsam unsere Urgroßeltern sich ihren bescheidenen Wohnraum geschaffen haben. Die weitere Unterhaltung des Hauses und des Grundstückes ist ja das eigentliche Problem, wie du auch festgestellt hast.
Wir haben Glück, das Wohnhaus unserer Urgroßeltern bewohnt weiterhin ein Urenkel. Das Haus wurde vor 1835 errichtet und 1907 haben es die Urgroßeltern in einem sehr desolaten Zustand erworben.
Erinnerungen kann man aber sehr gut in einer Familienchronik für die Nachkommen festhalten, insbesondere dann, wenn Unterlagen, Bilder und Urkunden vorhanden sind.
Es ist ein sehr schönes Hobby und da du gern schreibst, wäre es auch ein wunderbarer Nachlass für die Enkel, Urenkel usw.
Einen schönen Sonntag wünscht Bine
Helga geschrieben am 3. Juli 2016, 13:14:
Liebe Bine,
wir hatten das riesengroße Glück, dass unsere Mutti fast vierundneunzig Jahre alt wurde und bis zum Schluss geistig voll da war. Sie hat oft aus ihrem Leben erzählt, sodass wir Kinder und auch die Enkel von den schweren Zeiten erfahren haben. Ich hatte ihren Lebensweg zur Trauerfeier schon mal in groben Zügen festgehalten. Und ich will auch demnächst noch mehr schreiben, damit das auch für die kommenden Generationen nicht verloren geht. Von unseren Vorfahren wissen wir praktisch nur das, woran sich unsere Eltern erinnert haben. Chroniken, Fotos oder ähnliches sind, falls es sowas überhaupt gab, durch den schrecklichen Krieg verloren gegangen.
Ich finde es ebenfalls sehr wichtig, dass man die Lebensumstände der Vorfahren kennen lernt, um es schätzen zu können, welch ein relativ sorgloses Leben wir heute führen.
Auch dir einen schönen Sonntag!
Liebe Grüße Helga
Bine geschrieben am 3. Juli 2016, 14:15:
Liebe Helga,
auch wenn du die Familiengeschichte vorerst nur auf deine Erinnerungen aufbaust kannst, ist das schon ein sehr guter Anfang.
Ich selbst habe damals nur mit wenigen Dokumenten begonnen und hätte nie gedacht, dass ich so umfangreiche Informationen über die Familie zusammentragen kann. Ich habe jedoch nie in Kirchenbüchern gesucht, den es geht mir nicht um das Sammeln von Daten und Fakten. Meine Schwiegermutter ist aus Schlesien, hat auch nichts mitbringen können (Ausweise wurden auf der Flucht gestohlen), aber mir gelang es nach ihrem Tod trotzdem einiges in Erfahrung zu bringen. In so mancher Schublade schlummen interessante Aufzeichnungen, die man gar nicht vermutet hätte. Das Internet bietet auch einige Möglichkeiten.
Deine Schilderung über dein Geburtshaus liest sich auf jeden Fall sehr interessant, erst recht für deine Nachkommen.
Ich wünsche dir viel Freude und Erfolg bei deinem Vorhaben.
Viele Sonntagsgrüße
Bine
Elke geschrieben am 27. Juli 2016, 19:09:
Liebe Helga,
dein Vorhaben, die Eltern- und Familiengeschichte zu dokumentieren, finde ich großartig. Wenn es auch mitunter so scheint, als interessierten sich immer weniger Jüngere für das Vergangene ( selbst für die vorhergehende Generation), so kann man doch gewiss sein: irgendwann kommen sie in ein Alter, wo sie ahnen…bald können die Alten nichts mehr erzählen.
Ich wünsche dir gutes Gelingen! Wo du all die Energie hernimmst für dein so vielfältiges Tun ist mir schleierhaft….hat meinen Respekt und Bewunderung!
Liebe Grüße
Elke
Helga geschrieben am 28. Juli 2016, 17:49:
Liebe Elke,
danke für die „Blumen“. Doch, ich habe mir das fest vorgenommen, im kommenden Spätherbst und Winter meine Gedanken festzuhalten. Augenblicklich ist zu viel anderes zu tun, aber es geht mir schon vieles im Kopf herum. Eine Nichte wollte auch gern, dass Mutti all das aufschreibt, was sie oft erzählt hat. Sie war aber nie der Schreibertyp. Ich hatte meiner Nichte gesagt, sie müsste das schon selber aufschreiben. Nun werde ich das eben mal übernehmen. Ich habe auch gestaunt, dass unsere Tochter extra noch zweimal hingefahren ist in Omas Haus, um die scheinbar wertlosen Hinterlassenschaften zu sortieren. Ich konnte das nicht. Ich hatte immer das Gefühl, Mutti käme jeden Augenblick zur Tür herein.
Liebe Grüße Helga
Bine geschrieben am 29. Oktober 2017, 18:10:
Liebe Helga,
dein Beitrag über dein Elternhaus habe ich nicht vergessen. Nun frage ich mich natürlich, ob du es in gute Hände hast abgeben können. Ich hoffe doch, dass die Nachfolger wenigstens zum Teil etwas erhalten, was du in den Jahren lieb gewonnen hast.
Liebe Grüße
Bine
Helga geschrieben am 1. November 2017, 08:35:
Liebe Bine,
seit reichlich einem halben Jahr wohnt eine junge Familie in dem Haus. Sie hatten am Anfang große Pläne. Es scheitert bei ihnen augenblicklich wohl am Geld, aber auch an Erfahrungen und Durchhaltevermögen. Das ist nun aber zum Glück nicht mehr unser Problem. Wir haben inzwischen mit diesem Kapitel abgeschlossen. Meine Schwester, die direkt daneben wohnt, leidet noch sehr unter der derzeitigen Situation. Irgenwann wird sie sich auch mit den Gegebenheiten abfinden müssen.
Liebe Grüße
Helga
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